Was offene Standards und openBIM-Awards mit KI im österreichischen Einzelhandel zu tun haben – und wie Händler daraus konkrete Schritte für Daten- und KI-Strategien ableiten.

Wie openBIM-Awards den Weg für KI im Handel zeigen
Wenn in Berlin die buildingSMART openBIM Awards 2025 vergeben werden, wirkt das auf den ersten Blick wie ein Thema für Bauingenieur:innen, Architekt:innen und Infrastrukturbetreiber. Doch wer sich näher mit den prämierten Projekten beschäftigt, erkennt schnell: Hier entsteht eine Blaupause dafür, wie datengetriebene Innovation mit offenen Standards und KI ganze Branchen transformiert – und genau das ist auch der Hebel für den österreichischen Einzelhandel.
In unserer Serie „KI im österreichischen Einzelhandel: Retail Innovation“ schauen wir heute bewusst über den Tellerrand: Was macht die Vorzeigeprojekte der openBIM Awards so erfolgreich? Und wie lassen sich diese Prinzipien auf Bestandsmanagement, Preisoptimierung, Kundenanalyse und Omnichannel-Strategien im Handel übertragen?
Dieser Beitrag fasst nicht nur die wichtigsten Erkenntnisse der Awards zusammen, sondern übersetzt sie in konkrete Handlungsempfehlungen für Handelsunternehmen in Österreich, die ihre digitale Transformation mit KI und sauberen Datenstrukturen beschleunigen möchten.
Was hinter den buildingSMART openBIM Awards steckt
Die openBIM Awards 2025 wurden im Rahmen des buildingSMART International Summit in Berlin verliehen. Aus 22 Finalisten wurden Gewinner in neun Kategorien sowie zwei Special Mentions ausgezeichnet. Alle Projekte eint ein gemeinsamer Kern:
Offene Datenstandards, durchgängige digitale Prozesse und der Einsatz von KI, um Komplexität zu beherrschen und Mehrwert zu schaffen.
Die wichtigsten Award-Kategorien – kurz erklärt
- Construction & Design (Buildings & Infrastructure): Projekte, die große Bauvorhaben mit offenen BIM-Standards planen und realisieren – vom Terminal eines internationalen Flughafens bis hin zu Super-Großprojekten im Schienenverkehr.
- Operations: Digitale Zwillinge und offene Daten für den gesamten Lebenszyklus von Gebäuden.
- Professional & Student Research: Forschung zu Digital Twins, offenen Datenplattformen und KI-unterstützten Workflows.
- Sustainability: Projekte, die Nachhaltigkeitsziele mit digitaler Planung und Datenintegration verbinden.
- Technology: Lösungen wie „Qonic Intelligence (QI): Applying openBIM Classification through Advanced AI“, die KI gezielt einsetzen, um Daten zu klassifizieren und nutzbar zu machen.
Warum das für den österreichischen Einzelhandel relevant ist
Was Flughäfen, Hochhäuser oder Bahnprojekte mit einem Supermarkt, einer Drogeriekette oder einem Modehändler gemeinsam haben:
- Sie kämpfen mit vielen, heterogenen Datenquellen.
- Sie müssen Entscheidungen entlang eines gesamten Lebenszyklus treffen – von Planung über Betrieb bis zur Optimierung.
- Sie profitieren massiv von Standardisierung, Interoperabilität und KI.
Genau hier liegt die Brücke: Die Methoden, die im Bauwesen mit openBIM etabliert werden, lassen sich in Data- und KI-Strategien für den Einzelhandel übersetzen.
Fünf zentrale Lernpunkte aus den openBIM Awards – übertragen auf Retail
1. Offene Standards statt Datensilos
Ein roter Faden durch alle Gewinnerprojekte: offene, standardisierte Datenformate. Im Bauwesen ist das zum Beispiel IFC; im Handel sprechen wir von standardisierten Produkt-, Kunden- und Transaktionsdaten, die systemübergreifend funktionieren.
Übertragung auf den österreichischen Einzelhandel:
- Einheitliche Artikel- und Warengruppenstruktur für alle Filialen und Kanäle
- Harmonisierte Stammdaten über ERP, Warenwirtschaft, Onlineshop, Marktplätze und Kassensysteme
- Standardisierte Events (z. B. „Kauf“, „Retour“, „Preisänderung“) als Basis für KI-Modelle zur Preisoptimierung
Praxis-Tipp:
Starten Sie ein Daten-Governance-Projekt, das klar regelt:
- Welche Datendomänen gibt es (Artikel, Kunden, Bestände, Preise, Aktionen)?
- Wer ist fachlich verantwortlich?
- Welche Systeme sind führend?
- Welche gemeinsamen Standards gelten (z. B. für Attributnamen, IDs, Zeitzonen, Einheiten)?
Je sauberer diese Basis, desto effizienter können Sie im zweiten Schritt KI-Lösungen für Bestandsmanagement und Preisgestaltung einführen.
2. Digitale Zwillinge: Vom Gebäude zum digitalen Zwilling der Filiale
Mehrere ausgezeichnete Projekte setzen auf Digital Twins, also digitale Abbilder realer Assets, die mit aktuellen Daten gespeist werden. Im Baukontext sind das Gebäude und Infrastrukturen – im Handel sprechen wir vom digitalen Zwilling der Filiale oder des gesamten Store-Netzwerks.
Was ein digitaler Zwilling im Handel leisten kann:
- Visualisierung von Abverkaufsflächen, Laufwegen und Regalplätzen
- Verknüpfung mit Echtzeit-Beständen, POS-Daten und Sensorik (z. B. Frequenzmesser, Temperatur, Kühlmöbel)
- Simulation von Umbauten, Sortimentsänderungen und Promotion-Flächen
Lernpunkt aus den openBIM-Projekten:
- Ein digitaler Zwilling ist kein einmaliges Projekt, sondern ein laufender Prozess.
- Wert entsteht erst, wenn der Zwilling fortlaufend mit aktuellen Datenströmen verbunden wird und KI-Algorithmen Prognosen und Optimierungsvorschläge liefern.
Konkrete Anwendung im österreichischen Einzelhandel:
- Nutzung von Planogramm-Software als Ausgangspunkt für einen digitalen Store-Zwilling
- Verknüpfung mit POS- und Bestandsdaten, um Regalflächen rentabilitätsbasiert zu optimieren
- KI-gestützte Entscheidungshilfen: „Welche Produkte sollten auf welchen Regalplätzen stehen, um Umsatz und Marge zu maximieren?“
3. KI als Klassifizierungs- und Übersetzungsmaschine für Retail-Daten
Das prämierte Technologie-Projekt Qonic Intelligence (QI) zeigt: KI ist nicht nur für spektakuläre Use Cases da, sondern vor allem für das "Unsichtbare" – die automatisierte Datenklassifikation und -bereinigung.
Übertragen auf den Einzelhandel heißt das:
- Automatisches Mapping von Lieferantendaten auf interne Artikelstrukturen
- Erkennen und Zusammenführen doppelter oder fehlerhafter Produktdatensätze
- Kategorisierung von Produkten für Onlineshop-Navigation, Suchfunktionen und Empfehlungssysteme
Beispiel:
Ein österreichischer Händler bezieht ähnliche Produkte von zehn verschiedenen Lieferanten, alle mit unterschiedlichen Bezeichnungen und Attributen. KI kann:
- Gemeinsamkeiten erkennen (z. B. Marke, Inhaltsstoffe, Größen)
- Produkte automatisch den richtigen Kategorien zuordnen
- Datenlücken schließen und Normbezeichnungen vorschlagen
Das Ergebnis:
- Saubere Datenbasis für KI-gestützte Preisoptimierung
- Bessere Produktempfehlungen im E‑Commerce
- Weniger manueller Pflegeaufwand im Category Management
4. Lebenszyklus-Denken: Vom Bauwerk zum Produkt- und Kundenlebenszyklus
Ein weiterer Schwerpunkt der openBIM Awards liegt auf Lifecycle-Management – etwa beim Projekt „The Henderson - openBIM for Building Lifecycle“. Übertragen auf den Handel bedeutet das: Produkte, Kunden und Filialen über ihren gesamten Lebenszyklus denken.
Im Handel ergeben sich drei relevante Lebenszyklen:
- Produktlebenszyklus – von der Einführung über Wachstum und Reife bis zur Auslistung
- Kundenlebenszyklus – vom Erstkäufer bis zum loyalen Stammkunden oder Abwanderer
- Filiallebenszyklus – von der Standortplanung über Umbauten bis zur möglichen Schließung
Was wir von den openBIM-Projekten lernen können:
- Daten werden entlang des gesamten Lebenszyklus strukturiert erfasst.
- Entscheidungen basieren auf aktualisierten, konsistenten Informationen.
- KI hilft, Übergänge zu erkennen (z. B. von Wachstums- zu Reifephase) und passende Maßnahmen abzuleiten.
Konkrete Anwendungen im österreichischen Einzelhandel:
- KI-Modelle, die anhand von Absatzdaten automatisch erkennen, in welcher Phase sich ein Produkt befindet, und entsprechende Preis- und Promotionstrategien vorschlagen.
- Customer Lifetime Value (CLV)-Modelle, die auf sauberen, kanalübergreifenden Kundendaten basieren, um Budgets für CRM und Loyalty-Programme optimal einzusetzen.
- Standortanalyse mit KI, die Umsatzpotenziale, Frequenz, Wettbewerb und Demografie kombiniert – ähnlich wie Infrastrukturprojekte Standortdaten für neue Bahnhöfe oder Straßen nutzen.
5. Interdisziplinäre Zusammenarbeit als Erfolgsfaktor
Alle ausgezeichneten openBIM-Projekte haben eines gemeinsam: Sie sind Teamleistungen aus Planung, IT, Betrieb, Forschung und oft auch Behörden. Genau dieses interdisziplinäre Arbeiten ist im Handel häufig der Engpass für erfolgreiche KI-Projekte.
Übertragung auf die Retail-Praxis:
- Einkauf, Vertrieb, E‑Commerce, IT, Controlling und Marketing müssen gemeinsam definieren, welche Fragen KI beantworten soll.
- Data Scientists und KI-Teams brauchen klar strukturierte Fachanforderungen – sonst entstehen Modelle, die am Geschäftsbedarf vorbeigehen.
- Governance-Gremien (Data Boards, AI Councils) helfen, Prioritäten zu setzen und ethische sowie rechtliche Rahmenbedingungen zu klären.
In vielen Handelsunternehmen in Österreich existiert KI zwar bereits in Inseln (z. B. dynamische Preistools oder Recommendation Engines im Onlineshop), doch der große Hebel entsteht erst, wenn diese Ansätze strategisch vernetzt und mit einer einheitlichen Datenbasis unterfüttert werden.
Von openBIM lernen: Ein Fahrplan für KI im österreichischen Handel
Aus den Erfolgsfaktoren der openBIM Awards lässt sich ein pragmatischer Fahrplan für Handelsunternehmen ableiten, die KI und Datenstandardisierung ernsthaft vorantreiben wollen.
Schritt 1: Dateninventur und Standardisierung
- Welche Kernsysteme nutzen Sie (ERP, WWS, CRM, E‑Commerce, Kassensystem, Lagerverwaltung)?
- Wo liegen Doppelstrukturen und Inkonsistenzen?
- Definieren Sie unternehmensweite Standards für Artikel-, Kunden- und Standortdaten.
Schritt 2: Pilotprojekt mit klarem Business Case
Wählen Sie einen Use Case mit messbarem Mehrwert, etwa:
- Bestandsoptimierung für eine definierte Warengruppe
- Preisoptimierung für ausgewählte Filialen und Onlinekanäle
- Personalisierte Angebote für einen klar abgegrenzten Kundensektor
Nutzen Sie KI hier bewusst nicht als „Black Box“, sondern orientieren Sie sich an der Transparenz, die openBIM-Projekte vorleben: nachvollziehbare Logiken, dokumentierte Datenquellen, klare Verantwortlichkeiten.
Schritt 3: Digitale Zwillinge und Omnichannel verknüpfen
- Erstellen Sie ein konsistentes Datenmodell für Filialen und Onlinekanäle.
- Führen Sie Bestands-, Preis- und Aktionsdaten kanalübergreifend zusammen.
- Nutzen Sie KI, um Verfügbarkeiten, Lieferzeiten und Empfehlungen in Echtzeit zu optimieren.
Schritt 4: Skalierung und kontinuierliche Verbesserung
Analog zu den prämierten Forschungsprojekten im openBIM-Umfeld gilt: Innovation ist kein Einmalereignis, sondern ein kontinuierlicher Prozess.
- Etablieren Sie regelmäßige Reviews der KI-Modelle (Genauigkeit, Fairness, Wirtschaftlichkeit).
- Binden Sie Fachbereiche und Filialteams in Feedbackschleifen ein.
- Bauen Sie schrittweise ein zentral verantwortetes Data- & AI-Team auf.
Fazit: Warum der Blick auf openBIM den Handel nach vorne bringt
Die buildingSMART openBIM Awards 2025 zeigen eindrucksvoll, wie offene Standards, saubere Datenmodelle und KI gemeinsam Großprojekte im Bauwesen transformieren. Für den österreichischen Einzelhandel sind das keine exotischen Best Practices, sondern ein wertvoller Spiegel:
- Ohne einheitliche, offene Datenstrukturen bleibt KI im Handel Stückwerk.
- Digitale Zwillinge, Lifecycle-Management und automatisierte Klassifikation sind übertragbare Konzepte – vom Hochhaus zur Handelsfiliale, vom Infrastrukturcluster zum Filialnetz.
- Der entscheidende Erfolgsfaktor ist interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Business, IT und Data.
Wer diese Lehren annimmt, kann KI im österreichischen Einzelhandel weit über einzelne Piloten hinaus nutzen – für smartes Bestandsmanagement, dynamische Preisoptimierung, tiefgehende Kundenanalyse und leistungsfähige Omnichannel-Strategien.
Wenn Sie heute anfangen, Ihre Datenlandschaft so konsequent zu strukturieren, wie es openBIM im Bauwesen vormacht, stellt sich weniger die Frage, ob KI im Handel Mehrwert schafft – sondern nur noch, wie schnell Sie ihn heben.